Tageslektüre

wechselnde kurzgeschichten zum Hier-Lesen


Der Advent steht vor der Tür! Drum präsentiere ich hier meine Kurzgeschichte "Winterlied" - viel Vergnügen beim Lesen!

 

 

Die ehrwürdige Kirche erstrahlte in weihnachtlichem Glanz. Im Hauptschiff herrschte reges Treiben: Stühlerücken, unterdrücktes Husten, gedämpftes Raunen.
Im Altarraum ging es nicht minder geschäftig zu. Nur noch wenige Minuten bis zum Beginn des Konzerts – da wurden aufgekratzt Notenblätter zurecht geschoben und längst gestimmte Instrumente auf ihren Klang überprüft.
Friederike hielt ihr Cello entspannt im Arm und wandte ihren Blick dem Publikum zu. Keine Spur von Aufregung. Im Gegenteil. Selten hatte sie sich so sicher und geborgen gefühlt wie in diesem Moment, und das zu dieser gefühlsduseligen Zeit, in der sie sich sonst am liebsten in ihrer kleinen Wohnung verkrochen und die Menschen gemieden hatte.
Alles war anders geworden.
Aus der vierten und fünften Reihe schauten ihr mehrere wohlwollend dreinblickende Gesichter entgegen: allen voran Albrecht Graf von Achten, daneben seine Nichte Gwendolin, deren Freund Lysander, dahinter die Ascalons mitsamt ihrer Heidelberger Verwandtschaft ...
Sie waren hierher gekommen, um sie, Friederike, spielen zu hören! Sie lächelten ihr zu, und Gwendolin gab ihr sogar ein begeistertes Thumbs-Up.
Vorbei die Zeiten, in denen sie vor Einsamkeit am liebsten gestorben wäre. Wenn alle außer ihr die Familie im Publikum wussten und hernach einen Ort hatten, an dem sie sich treffen und das Konzert Revue passieren lassen konnten, und nur auf Friederike niemand wartete, der sie hinterher in den Arm nehmen würde.
Es ging ihr nicht um die Anerkennung ihrer Leistung. Sie wusste durchaus, dass sie fabelhaft spielte. Aber es von Albrecht zu hören, oder von Derius d’Ascalon, der ebenso das Cello beherrschte ...
Das Deckenlicht erlosch wie von Zauberhand. Es war soweit!
Bekannte klassische Stücke, etwa von Bach und Schubert, und andere wunderbare Melodien erfüllten den hehren Raum. Der anschließende Applaus sprach für die Darbietung des kleinen Orchesters.
Dann folgte der etwas modernere Teil. Sie hatten kontemporäre Stücke in das Programm aufgenommen. Winter Song von Sara Bareilles ging Friederike besonders unter die Haut, und genauso spielte sie. Das Cello war der Sturm, aber auch der Leuchtturm aus dem Lied, und sie spürte erstmals seit so vielen Jahren, dass die Liebe, die im Weihnachtsfest gefeiert wurde, tatsächlich lebendig war.
Tosender Applaus.
Friederikes Wangen glühten.
Band Aid aus den Achtzigern. Do they know it’s Christmas. Damals war sie noch ein Teenager und ihre Welt halbwegs heil gewesen. Was sie in den Proben nur hatte erahnen können, erwischte sie nun mit voller Wucht, aber es fegte sie nicht hinweg. Nein, dieses Jahr gab es auch für sie eine besinnliche Weihnachtszeit.
Das letzte Drittel des Konzertes bestand wiederum aus Klassikern, und mit Adeste Fideles boten sie ein zu Herzen gehendes Finale. Die Deckenbeleuchtung flutete das Kirchenschiff in warmem Licht, und der Applaus des Publikums belohnte das Orchester mehr als reichlich.
Mit leuchtenden Augen verstaute Friederike ihr Instrument im Koffer, während die anderen Musiker mit heiteren Sprüchen ihrer Euphorie über den gelungenen Nachmittag freien Lauf ließen.
Albrecht war nähergetreten. »Sie waren fantastisch! Eccelente!« Er strahlte über das ganze Gesicht. »Lassen Sie mich Ihr Cello tragen.«
Sie überließ es ihm gerne. Sie vertraute ihm schließlich. Und auch Lysander, der es dem alten Herrn kurz darauf abnahm.
»Und jetzt?«, kam es von Gwendolin. »Weihnachtsmarkt?«
»Ich muss noch mein Cello ...«, wollte Friederike einwerfen, aber Lysander grinste nur und schüttelte den Kopf.
»Ihre Leute nehmen ihren Krempel doch auch mit dahin«, sagte er. »Dann sieht man wenigstens gleich, dass Sie hier zu den Promis gehören.«
Noch vor wenigen Wochen wäre sie nun vor Verlegenheit am liebsten im Boden versunken. Stattdessen verließ ein erfreutes »Okay« ihre Lippen.
Da sich das Orchester am nächstgelegenen Glühweinstand treffen wollte, mussten sie sich nicht erst verabschieden.
Nach und nach trudelten die Musiker und ihre Angehörigen dort ein. Und Friederike und ihre Entourage ebenso. Derius und sein Schwiegervater sorgten für den Glühwein, und bald stießen sie mit allen an und lachten und freuten sich über das Konzert, das in ihren Köpfen noch nachhallte.
Pläne für die Feiertage wurden allenthalben ausgetauscht. Das war sonst immer ein Grund gewesen, warum Friederike solche Zusammenkünfte gemieden hatte. Wenn man auch niemanden zum Weihnachten feiern hatte, dann schmerzte es zu sehr, diesen beschwingten Gesprächen zu lauschen.
»Na, was ist los?«, sprach Albrecht sie unbekümmert an. »Sie gucken auf einmal so nachdenklich.«
»Ach, nix. Ist schön hier«, entgegnete sie schnell. Genau. Sie wollte sich diesen Abend nicht mit ihren blöden Gedanken kaputtmachen. Ein Weihnachtsfest ohne Familie ... das Alleinsein, wenn alle, die man liebte, tot waren. Man gewöhnte sich daran, hatte sie erst im Spätsommer Albrecht gestanden, und er hatte es bestätigt. Das Leben ließ sich schließlich nicht aufhalten. Aber nun gab es Albrecht und die Ascalons. Das hier war besser als alles, was sie sich noch vor einem Jahr hätte ausmalen können. Die Feiertage würde sie zwar allein verbringen, doch bis dahin war sie im Kreis ihrer neuen Freunde geborgen.
»Wir müssen los, ihr Lieben«, mahnte Gwendolin an. »Wenn wir die Straßenbahn verpassen, brennt das Essen an!«
»Aber mein Cello ...«
»Das nehmen wir mit, ja? Vielleicht brauchen wir’s ja noch nachher.« Gwendolin lachte gewinnend und kassierte einen Stupser von ihrem Freund. Sofort schloss sie die Lippen und lächelte spitzbübisch weiter.
Friederike blinzelte verwirrt.
Lysander beugte sich konspirativ zu ihr. »Derius’ Schwiegervater weiß von nichts«, raunte er ihr ins Ohr. »Also sollten wir uns möglichst unauffällig geben.«
»Wie ...? Von was weiß er nichts?« Sie kam nicht darauf. Dass Derius gleichfalls Cello spielte, war doch kein Geheimnis. Was sollten sie also vor seinem Schwiegervater geheimhalten?
»Na, dass seine Tochter einen Vampir geheiratet hat«, wisperte Gwendolin.
»Und das mit uns halt«, ergänzte Lysander.
Ach so. Natürlich. Doch lange konnte Friederike nicht darüber nachdenken. Unter heiteren Abschiedsbekundungen brachen sie auf in Richtung Bismarckplatz, die weihnachtlich geschmückte Hauptstraße entlang durch die Altstadt.
Lysander hatte das Cello geschultert. Gwendolin und Albrecht plauderten munter mit den anderen, die sich nicht an den langen, spitzen Zähnen zu stören schienen, und auch Derius und sein Schwiegervater waren offenkundig ins Gespräch vertieft.
All das beobachtete Friederike mit einer Mischung aus Erstaunen und unfassbarem Glück. Sie war eingeladen. Eingeladen, mit dieser zauberhaften Familie den Abend bei einem festlichen Adventsessen ausklingen zu lassen.
Auf Höhe der Grabengasse, dort, wo es zum Universitätsplatz und seinem weihnachtlichen Budenzauber ging, hatte sich eine größere Menschenansammlung gebildet. Ihr Kinderlein kommet, sang da gerade ein Laienchor mit Inbrunst.
Die Vampire blieben stehen.
Nun, warum nicht dem Gesang lauschen? Sie hatten noch ein paar Minuten bis zur Abfahrt der Straßenbahn, und wenn sie diese verpassten, würden sie halt die nächste nehmen. Das Essen würde, anders als Gwendolin behauptet hatte, unbeschadet auf sie warten.
Bamm bamm bamm bamm bamm ..., ertönte ein weiteres Lied – eben jener Winter Song, der so aus Friederikes Seele sprach.
»Hören Sie?«, flüsterte Albrecht in ihr Ohr. »Haben Sie das nicht vorhin gespielt?«
Oh – er hatte es erkannt, obwohl es doch lange nach seiner Zeit entstanden war.
Friederike schluckte. Die Gefühle in ihrem Innersten drohten sie zu überwältigen.
Dabei war es so schön! Aber wohin nur mit all der Liebe, die sie nicht gewohnt war?
Der Chor nahm freudestrahlend den behandschuhten Applaus entgegen und hob zum nächsten Stück an.
Stille Nacht. Welcher Chorleiter hatte sich diese chaotische Abfolge nur ausgedacht?
Albrecht räusperte sich. Sein Blick traf den von Gwendolin.
Instrumente mochten sie nicht beherrschen, hatte er Friederike bei ihrer spätsommerlichen Wanderung über den Heiligenberg erzählt. Aber eine Familie von Sängern waren sie wohl.
Ungeachtet der erstaunten Blicke der Zuschauer fingen sie gleichzeitig an, den Gesang des Chors mit einer zweiten Stimme zu ergänzen.
Es mochte nicht einen unter den Anwesenden geben, dem in diesem Moment kein ehrfürchtiger Schauer über den Rücken lief, als nun das besinnliche Stück mit eindringlicher Kraft vor dem Hintergrund des weihnachtlichen Trubels erklang.
Friederike bemerkte nicht einmal, wie ihr die Tränen ungehemmt über die Wangen rannen. Erinnerungen an ihre Kindheit stahlen sich in ihre Gedanken.
Mutti, Vati ... das Weihnachtsbäumchen mit den bunten Kugeln, flackernden roten Kerzen und Massen an Lametta ... der Koffer, den sie kaum zu öffnen wagte.
Ein Cello. Ihr Cello. Viel zu groß für die Zwölfjährige, und dennoch ihr sehnlichster Herzenswunsch. Vati lächelte stolz und nickte ihr zu.
Im Jahr darauf war er gestorben und sollte nie hören, wie sie es spielte ...
»Friederike, geht es Ihnen nicht gut?«, drang Albrechts Stimme an ihr Ohr.
Sie hatte nicht mitbekommen, dass das Lied bereits zu Ende und mit anerkennendem Applaus bedacht worden war. Außer einem hilflosen Nicken gelang ihr keine Erwiderung.
»Was haben Sie denn?«, fragte er besorgt.
Derius und Lysander schubsten die anderen unauffällig weiter des Weges, und Gwendolin schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln. Sie wussten um die Vergänglichkeit des Lebens und die Bedeutung aufrichtiger Zuneigung in schweren Zeiten.
»Ach ...«, seufzte Friederike hilflos. Sie wollte ja niemanden mit ihren Gefühlsduseleien belästigen.
»Kommen Sie, erzählen Sie mir alles.« Albrecht klemmte ihren kraftlosen Arm mit seinem ein. »Der Abend war doch so wunderbar. Lassen Sie mich Ihre Tränen trocknen.«
»Es ist nur ...«
Er bedachte sie mit seinem unwiderstehlichen Lächeln. Allerdings wusste sie, dass hinter der Fassade eine gleichermaßen verletzte Seele wohnte, die den Verlust geliebter Menschen jahrhundertelang nicht hatte bewältigen können.
»Also gut«, schniefte sie und tupfte sich mit dem Ärmel über die Augen.
Behutsam zog er sie weiter und ließ ihr Zeit.
»Das war wirklich ... schön«, brach es endlich aus ihr heraus. »Und ich weiß auch nicht ... Aber das mit Weihnachten ...«
»Ein wunderbares Fest«, meinte er, nachdem ihr die Worte ausgingen. »Sie glauben gar nicht, wie sehr ich mich immer darauf freue – erst unser Solstice und dann das Christfest! Ich kann es gar nicht erwarten, dieses Jahr meine Lieben in Aachen zu besuchen und mit ihnen zu feiern!«
»Das ist es ja«, quetschte Friederike mühsam hervor. »Sie sind dann auch weg und ich ... ich bin dann wieder allein ... ganz allein.«
Albrecht blieb stehen, einen betroffenen Ausdruck auf dem Gesicht. »Aber ...«
»Ja«, hob sie an, bevor er weiterreden konnte, »Sie gehen weg und ich ... bleib hier, und dabei ... Also ich weiß ja schon längst, dass Sie Ende des Jahres Heidelberg verlassen wollen, aber irgendwie ... irgendwie vermisse ich Sie schon jetzt.«
»Aber Friederike – Pläne können sich ändern!«
»Aber nicht, dass Sie nach Aachen gehen!«
»Nein, warum auch? Die ganze Familie trifft sich dort. Das heißt jedoch nicht, dass ich für immer dableiben werde. Und gerade vorhin hatte ich es mit Gwendolin davon. Ob wir Sie nicht würden überreden können, mit uns zu kommen!«
Friederike starrte ihn wie vom Donner gerührt an.
»Ja«, fuhr er fort, »wir würden gern ein bisschen angeben vor der lieben Verwandtschaft, eine solch begnadete Musikerin wie Sie zu unseren engsten Freunden zählen zu dürfen.« Er lächelte verschmitzt.
Sein gefälliger Ton täuschte sie nicht über die eigentliche Aussage hinter dem Scherz hinweg – dass sie, Friederike, nämlich mit seiner aus tiefstem Herzen kommenden Freundschaft bedacht war.
»Na, was meinen Sie?«, sagte er. »Wäre es für Sie denkbar, Ihre Pläne bezüglich der Feiertage so weit abzuändern, dass wir sie miteinander verbringen können? Damit würden Sie mir – uns – eine große Freude bereiten.«
»Ich ... hab keine Pläne«, stammelte sie.
»Ist das ein Ja?« Er warf ihr einen väterlichen Blick zu.
»Ich ... glaub schon.«
»Wunderbar!« Albrecht lachte vergnügt. »Dann trübt jetzt kein trauriger Gedanke mehr mein Gemüt. Und Ihres hoffentlich auch nicht.«
Friederike spürte, wie sich die Anspannung von ihr löste. Sie wich einem Gefühl von unerwarteter Geborgenheit. Weihnachten mit Freunden, wenngleich recht ungewöhnlichen Freunden.
Hinter ihnen erklangen festliche Melodien vom Weihnachtsmarkt her. Sie hatten ihren wehmütigen Unterton verloren. Wie vorhin in der Kirche verhießen sie nun vor allem Frohsinn und Frieden den Menschen auf Erden.
»Frohe Weihnachten«, raunte Albrecht.
Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. »Frohe Weihnachten.«
Arm in Arm überquerten sie die Straße zur Haltestelle, wo gerade die Straßenbahn vorfuhr.